Der stumme Zerfall der Hingabe

,,Einen letzten Tanz?“, lächelte er und reichte ihr seine ruhige Hand, damit sie sich von den schwarz lackierten Stühlen erheben konnte. Ihr Mund und ihre Augen waren weit geöffnet. Da war er! Er war wieder da! Vor Aufregung musste sie einen Freudenschrei unterdrücken. Nicht, dass die Umstehenden blöd geschaut hätten. Lächelnd ließ sie sich von ihm in den Stand ziehen. Wie sehr hatte sie ihn vermisst. Die Traurigkeit war wie weggeblasen. Hatte sich wie ein Tiger in seiner Höhle verkrochen und sah ihn mit großen Augen an. Unfassbar, dass er wieder da war.

Sie prägte sich seine weichen Falten ein. Als sähe sie ihn zum ersten Mal. Als würde sie es in ihr Gehirn einbrennen, um sich daran zu erinnern. Wie die bernsteinfarbenen Augen, die so liebevoll leuchteten und ihr Kleid betrachteten. Es saß perfekt an ihrem Körper, als wäre es mit Wachs überzogen. In der Mitte des Raumes blieben sie stehen. Die Stühle und Tische waren an die Seite gerückt. Jetzt hatten sie genug Platz zum Tanzen. Mit Tränen in den Augen lächelte sie ihn an, und er lächelte beruhigend. Das wollte sie unbedingt tun – mit ihm tanzen. Seine Hand ruhte auf ihrer Taille, die andere streckte ihre Hand in die Höhe. Lächelnd wartete er, bis sie bereit war, dann ging er vor, sie zurück. Er zur Seite, sie folgte ihm. Gemeinsam schwebten sie über den in traurigen Farben geschmückten Ballsaal. Die umstehenden Gäste applaudierten. Sie ließen ihre Kuchen und Kaffeetassen stehen und tanzten mit. Alle hatten sich am Morgen schön angezogen und für diesen Tag vorbereitet.

Ihr Bauch kribbelte, nein, er schmerzte vor Glück und alle negativen Gefühle waren wie betäubt. Sie waren so schnell verschwunden, als wären sie nie da gewesen, und so fühlte sie sich auch. In den Armen der Liebe, der sie verfallen war. Von dem Augenblick an, als sie sich begegnet waren und sie ihn mit jedem seiner Blicke mehr geliebt hatte. Hilfe, sie hat jeden Augenblick mit ihm durchlebt. Von ihrer ersten Begegnung bis zu ihrem Abschied vor ein paar Tagen. Aber jetzt war er wieder da!

Lächelnd sah sie ihn an. Er sah fantastisch aus in dem Anzug mit der Krawatte und dem Hut auf dem Kopf. Genau so, wie sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Er hob den Arm, so dass sie sich um ihn drehte. Der Stoff ihres Kleides wippte und folgte jeder ihrer Bewegungen wie ein Seidentuch im Wind. Dann zog er sie wieder zu sich heran, damit sie den Tanz von neuem beginnen konnten. Er lief vorwärts, sie rückwärts. Er ging zur Seite, sie folgte ihm.
,,Ich habe dich vermisst”, flüsterte sie mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. Er antwortete nicht. Lächelte nur. Warum sagte er nichts?

Sie runzelte die Stirn, tanzte aber weiter. Ganz langsam, kaum merklich, löste sich der Druck seiner Handfläche auf ihre Taille, obwohl seine Hand darauf ruhte. Auch die Hand, die sich mit der ihren verhakt hatte, verschwand langsam. Sie blickte auf seine Finger, die langsam zu schwarzem Staub zerfielen. Panik stieg in ihr auf, als sie zum Stillstand kamen. Was war hier passiert? Sie blickte zurück in sein Gesicht und schnappte augenblicklich nach Luft. Sein zerstreuter, verletzter Blick schien ihr einen Dolch ins Herz zu stoßen. In seinen Augen spiegelte sich der blanke Schrecken. Ein Wirbelsturm, der alle Gefühle in ihr aufwühlte. Angst, Trauer, Liebe, Verwirrung – Todesangst.

Er darf nicht gehen! Nicht schon wieder!
,,Alles wird gut”, flüsterte er und legte seine Stirn an ihre: Sie tat es, obwohl das Gefühl von Angst und Sorge in ihr immer stärker wurde. Es staute sich auf und durchdrang nach und nach jede Zelle ihres Körpers. Es war wie ein Lauffeuer. Als würde ihr Körper in Flammen stehen.
Dann spürte sie den Druck seiner Stirn an ihrer nicht mehr. Sie seufzte, bevor sie die Augen öffnete und direkt in das Sterbebild ihres Geliebten blickte, das hier an seinem Grab hing. Vom Stuhl gerissen, fiel sie auf die Knie und hielt sich die Brust, die sich anfühlte, als hätte jemand mit einer Axt hineingehackt. Als würden Tausende von Insekten darin hausen und sich hin und her wälzen. Schreiend schlug sie mit den Fäusten auf den Boden. Ihre Tante kniete sich zu ihr und strich ihr beruhigend über den Rücken.

Es war, als hätte man ihr das Herz aus der Brust gerissen. Als hätte es diesen wunderbaren, wiedervereinten Tanz nie gegeben.
Doch wozu wäre die Vorstellungskraft des Menschen denn sonst gut?

Teile den Artikel:

Ähnliche Beiträge: